Mit den Menschen und nicht über die Menschen forschen, das hohe ehrenamtliche Engagement der dritten Generation und der „Karrierekiller Familie“: es sind dies die Themen, von denen die 39-jährige Sigrid Mairhofer begeistert beziehungsweise kopfschüttelnd erzählt, wenn sie von ihrer Forschungsarbeit und ihrem Beruf erzählt. Ihre Dissertation Partizipative Gestaltung gesunder Lebenswelten: Ein Beitrag der kommunalen Gesundheitsförderung mit älteren Menschen im ländlichen Raum beschäftigte sich vor allem mit den Fragen, wie Sozialarbeiter*innen gemeinsam mit älteren Menschen altersgerechte gesunde Gemeinden schaffen können. Zum Verständnis: Es geht um die Zielgruppe der dritten Generation, also jene Menschen, die von der Arbeitswelt in den Ruhestand übertreten. Diese bringen meist viele wertvolle Ressourcen für die Gesellschaft mit und könnten und sollten die Gemeinden aktiv mitgestalten. „Trotzdem sollte stets bedacht werden, dass sie durch ihr hohes ehrenamtliches Engagement keine professionellen Dienste ersetzen können, sondern es ein Zusammenspiel von Professionist*innen und Ehrenamtlichen benötigt“, präzisiert Mairhofer. „Im Projekt zeigte sich dann auch deutlich diese Lücke, nämlich dass es in Südtirol im Bereich Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung zumindest im ländlichen Raum kein professionelles Angebot gibt. Auf der anderen Seite bildet die Freie Universität Bozen jährlich Expert*innen in diesem Bereich aus, die hier zukünftig ein wichtiges Handlungsfeld finden könnten und sollten“, so Sigrid Mairhofer. „Im Rahmen meines Projektes habe ich einen Schwerpunkt in Partizipativer Forschung gesetzt, da ich davon überzeugt bin, dass ein Paradigmenwechsel in der Forschung notwendig ist.“
Erfolgreich in wichtigen Lebensbereichen
Als einen der der wichtigsten Karriereschritt nach ihrem Doktorat bezeichnet sie selbst die Gründung einer Familie. „Ich bin am Ende des Doktorats zum ersten Mal Mutter geworden und kurze Zeit später dann ein zweites Mal“, freut sie sich. „Und auch wenn das einige Kolleg*innen als „Karrierekiller“ bezeichneten, möchte ich es gerade deshalb als Karriereschritt erwähnen. Für mich bedeutet Karriere, in wichtigen Lebensbereichen erfolgreich zu sein, und das umfasst für mich Familie und Beruf.“ Da sie aber wusste, dass ein kompletter beruflicher Ausstieg in der sensiblen Postdoc-Phase undenkbar wäre, trat sie kürzer, arbeitete aber weiterhin an einem Forschungsprojekt mit: „Ich war bis zur Pensionierung von Prof. Walter Lorenz Mitarbeiterin in seinem Team.“ Es folgten Lehraufträge an der unibz, an der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana in Bozen, an der FH St. Pölten und am Management Center Innsbruck. In Zusammenarbeit mit dem Forum Prävention übernahm sie freiberuflich die Evaluation der Pilotprojekte Frühe Hilfen Südtirol. Parallel dazu publizierte sie und nahm an zahlreichen Konferenzen teil, um ihre Forschungserfahrungen auf Konferenzen zu präsentieren und zu publizieren, immer mit dem Ziel einer Professur vor Augen. „Ich bin davon überzeugt, dass diese Zeit der Unsicherheit für alle mit keiner guten ökonomischen Absicherung vielfach der Grund ist, warum sehr qualifizierte Menschen zu früh aufgeben (müssen). Zudem ist das für Frauen ein sehr bedeutendes Thema, da Kinderwunsch und prekäre Arbeitsverhältnisse nicht gut zusammenpassen und wir natürlich wissen, dass Frauen noch weit öfter und länger in prekären Arbeitsverhältnissen bleiben und die Schere zwischen den Geschlechtern auch in der akademischen Welt sehr groß ist“, fügt die Zweifachmutter kritisch an.
Dabei sei die Weiterentwicklung der Qualität in Lehre und Forschung nicht nur für Italien ein Thema: „Ich hatte als Frau und ohne ökonomische Sicherheit im Hintergrund nicht die besten Voraussetzungen für eine akademische Karriere. Aber selbst in Deutschland haben wir diese Diskrepanz zwischen den Geschlechtern. An der Hochschule München liegt der Frauenanteil bei ca. 22%, das heißt nur weniger als jede vierte Professur ist weiblich.“ Der Unterschied liege darin, dass Deutschlandweit gerade sehr an diesem Thema gearbeitet werde, anders als in Italien. „Durch diese schwere anfängliche Karriereerfahrungen habe ich es mir zum Ziel gesetzt, vor allem Frauen und Arbeiter*innenkinder auf ihrem Weg zu fairen Bildungs- und Karrierechancen zu unterstützen.“
Professur an der Hochschule München
„In Deutschland ist das Berufungsverfahren für Professuren klar und recht einheitlich geregelt“, erläutert Sigrid Mairhofer. „Die Stelle wird ausgeschrieben und es folgt ein mehrstufiges Verfahren, das ab der Ausschreibung ca. 1 bis 2 Jahre bis zur Stellenbesetzung dauert. Die Zugangskriterien für Hochschulprofessuren sind genau festgelegt, es braucht eine sehr gute Promotion, Forschungs- und Lehrerfahrung und mindestens 5 Jahre Praxiserfahrung im ausgeschriebenen Feld.“ Die Südtirolerin bewarb sich in München, musste Probevorlesungen halten, Gespräche mit der gesamten Berufungskommission führen – letztere ist in Deutschland übrigens sehr demokratisch aus Professuren, Mittelbau und Student*innenvertretung und Gleichstellungsbeauftragten besetzt – und am Ende folgte das Berufungsgespräch mit Dekan und Präsident. Heute bekleidet sie an Bayerns größter Hochschule für angewandte Wissenschaften mit 18.000 Studierenden die Professur für Gemeinwesen- und Organisationsentwicklung der Hochschule München. Dabei sei der Begriff Gemeinwesen im Deutschen manchmal etwas verwirrend, weil er zum Teil nur mit der territorialen Einheit, wie der Gemeinde, in Verbindung gebracht wird. Im Englischsprachigen wird Community hingegen als territoriale, aber auch als kategoriale oder funktionale Einheit verstanden, wie z.B. als Gemeinschaft von Eltern oder die Gemeinschaft der Bewohner*innen eines Dorfes. Im Sinne der Gemeinwesenarbeiten wird Gemeinwesen somit eher als Gemeinschaft verstanden, welche häufig auch territorial eingegrenzt werden kann. In der Gemeinwesenarbeit geht es darum die verschiedenen Akteure bei der Gestaltung des Gemeinwesens zu unterstützen. Ziele können z.B. Verbesserung von Wohnraum sein, oder von Verkehrsanbindungen, Grünflächen (z.B. Platz zum Treffen, Spielen, Bewegen in Wohnsiedlungen), aber auch immaterielle Verbesserungen wie Arbeit an der Qualität sozialer Beziehungen oder Kulturangebote, was gerade in der aktuellen Zeit wieder deutlich wird, da beispielsweise Theater und Musik als wichtige Ressourcen im Gemeinwesen angesehen werden.
Sie selbst lehrt sehr gerne in München, bietet die Stadt doch ein großes kulturelles Angebot und viele schönen Ecken. Ein wenig fehle ihr an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften das mehrsprachige Flair der Freien Universität Bozen, das sie stets als inspirierend genossen hat.
Forschungsagenda
In der Forschung setzte Sigrid Mairhofer ihren Schwerpunkt in den vergangenen Jahren vor allem auf den Bereich Frühe Hilfen und soziale Unterstützungsnetzwerke von Familien. „Diesen Schwerpunkt möchte ich für die nächsten Jahre ausbauen, da gerade in der aktuellen Pandemie deutlich wird, wie wichtig professionelle, ehrenamtliche und informelle Unterstützungsnetzwerke sind.“ Dabei sieht sie die Sozialarbeitsforschung im Gegensatz zu anderen Disziplinen nicht wertefrei und rein erfassend, sondern mit dem Ziel durch die Forschung die Lebenswelten der Menschen positiv zu verändern, im Sinne einer transdisziplinären und transformativen Forschung.
Für die Zukunft wünscht sie sich als übergeordnetes Ziel, „Frieden und dass wir Menschen unserem wunderschönen Planeten und allen darauf lebenden Menschen, Tieren, Pflanzen und all dem Wunderbaren was er sonst noch zu bieten hat, endlich die angemessene Wertschätzung entgegenbringen. Auf politischer Ebene und in der (Südtiroler) Gesellschaft wünsche ich mir mehr Dialog und Bewusstsein zu den Themen Chancengleichheit (in Bezug auf Geschlecht, sozioökonomische Faktoren, …) und mehr Fokus auf Soziales, vor allem im Bereich Familie und ältere Menschen und dass diese vielen Baustellen dort endlich angemessen diskutiert und bearbeitet werden. Und für die Arbeit in Forschung und Lehre wünsche ich mir, dass mehr in Kooperationen und weniger in Konkurrenz gedenkt wird und dass Wissenschaftler*innen sich für positive Veränderungen einsetzen.“
(vic)